»Schwächen und Stärken im mitmenschlichen Umgang zeigen sich deutlicher«

Sie ist Professorin im Ruhestand und hat sich dennoch noch lange nicht zur Ruhe gesetzt: Prof. Dr. Käte Meyer-Drawe lehrte mehr als 30 Jahre Allgemeine Pädagogik an der Ruhr-Universität Bochum und forscht auch heute noch zu ihrem Fachgebiet, der phänomenologischen Pädagogik. Im Interview spricht sie über das Ehrendoktorat der Universität Klagenfurt, die Auswirkungen der Coronapandemie und welche Themen sie aktuell beschäftigen.

Frau Professorin Meyer-Drawe, wir gratulieren Ihnen ganz herzlich zur Verleihung des Ehrendoktorats der Universität Klagenfurt. Was verbindet Sie mit der Hochschule?

Erlauben Sie mir, zunächst anzumerken, dass mir das Ehrendoktorat der Universität Klagenfurt zwar angetragen, aber aufgrund der Corona-Situation noch nicht offiziell verliehen wurde. Mit dieser Universität verbinden mich im Bereich der Erziehungswissenschaft vor allem zwei Forschungsgebiete: Zum einen bin ich seit langer Zeit mit Prof. Dr. Christina Schachtner in regem Austausch über den Einfluss moderner Technologien und Techniken auf menschliche Selbst-, Fremd- und Weltverständnisse. In jüngster Zeit gilt unsere Aufmerksamkeit dem Lernen in digitalisierten Gesellschaften.

Zum anderen arbeite ich sehr intensiv mit der Klagenfurter Vignettenforschung zusammen, die sich einer besonderen qualitativen Empirie widmet. Prof. Dr. Hans Karl Peterlini nenne ich stellvertretend für alle Mitglieder der Forschungsgruppe. Im Zentrum steht das Bemühen um einen reichen Lernbegriff. Dabei steht Lernen als Erfahrung im Vordergrund. Exemplarische Unterrichtsszenen werden mit dem Ziel beschrieben, Allgemeines im Besonderen aufleuchten zu lassen. Die sprachliche Verdichtung von bezeugten Unterrichtsabschnitten in Vignetten steht vor dem Problem, dass Sprache das Wahrgenommene immer bereits nach ihrem Muster verändert, dynamische Momente fixiert und gleichsam das konkrete Handeln in seinen notierten Resultaten erstarren lässt.

Diese Transformation ist zwar nicht zu verhindern, aber zu berücksichtigen, was enorme Anforderungen an eine prägnante Sprache stellt, die unentwegt an Grenzen stößt, an Sinn, der sich nicht sagen lässt. An dieser Stelle leistet die Phänomenologie der Leiblichkeit, der ich mich in meinen pädagogischen Bemühungen verpflichtet weiß, wichtige Hilfestellungen, ist sie doch im Grunde genommen nichts anderes als eine Philosophie der Erfahrung.

Sie können mittlerweile auf mehr als ein halbes Jahrhundert in der Wissenschaft zurückblicken, seit 2015 sind Sie ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Künste. Gibt es etwas, das Sie jungen Forschenden gerne für ihre weitere Karriere mitgeben?

Während meiner Jahre an der Akademie habe ich mehrfach die Gelegenheit erhalten, bei der Vorauswahl und bei der Auswahl der Mitglieder der Jungen Akademie mitzuwirken. Ich habe unzählige brillante Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kennengelernt und viel von ihnen gelernt. Bewahrten sie ihre Neugierde, ihre Selbstkritik und ihre Hingabe an die Sache, wäre jeder Rat überflüssig. Umgekehrt habe ich sehen gelernt, was ich bei meiner Laufbahn alles versäumt, verpasst und ausgelassen habe. Das ist nicht mehr zu ändern. Vielleicht kann ich aber einen Appell an uns alle richten, die wir die Sprache als unser Element haben.

Unsere Sprache ist so reich, dass es in Diskussionen stutzig macht, wenn immer wieder alles „spannend“ oder sogar „total spannend“ gefunden wird. Manches ist vielleicht interessant, anregend, beachtenswert, irritierend, faszinierend, reizvoll, fesselnd, förderlich... Aber wem sage ich das?

Ihr Fachgebiet der Phänomenologischen Pädagogik befasst sich mit der Erforschung und Theorie der Erfahrung – in der Coronapandemie erfährt jeder Einzelne wie auch wir als Gesamtgesellschaft ein ganz neues Gefühl der Fremdbestimmung und Einschränkung. Wie ist Ihr Blick auf die aktuelle Situation?

Vom Standpunkt der Erfahrung fungiert die Coronapandemie mitunter wie ein Vergrößerungsglas. Schwächen und Stärken im mitmenschlichen Umgang zeigen sich deutlicher. Man wird auch auf vieles gestoßen, das bis vor kurzem als selbstverständlich genommen und deshalb in seiner Bedeutung für unsere Sozialität kaum bedacht wurde wie etwa das zwanglose Zusammentreffen, das nun als gemessene Distanz verkümmert. Gewohnheiten werden gestört. Zahlen schaffen Hoffnungen und Enttäuschungen. Allzu schnell werden jedoch Parolen geschmiedet. „Krisen sind Chancen.“ Das wird wohl auch stimmen, bagatellisiert jedoch die bedrohliche Seite der Lage. Probleme sehe ich z. B. im Umgang der jüngeren Generation mit der älteren. Wann wird die Fürsorge der empfundenen Benachteiligung nicht mehr standhalten? Schwierig ist der Vertrauensverlust, der auch durch politisches Versagen verursacht ist. Immer häufiger geht es eher um Worte als um Taten.

Weiterhin verwirrt, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einerseits vermehrt im öffentlichen Raum zu hören sind, andererseits aber krude Verschwörungstheorien beängstigende Affektgemeinschaften schaffen, indem sie die Erregungs- und Aufmerksamkeitsökonomie steuern. Impfungen werden zum Zankapfel. Immunisierung ist nötig, legt aber auch fest, was als fremd und was als eigen zu gelten hat. Das Fremde wird zugunsten des Eigenen bekämpft. Hygiene und Reinheit stellen Mischungen unter Verdacht. Es ist nicht auszuschließen, dass diese Bilder im politischen Raum auf ein gefährliches Entgegenkommen stoßen. In einer Zeit, in der Achtsamkeit vor allem als die gelassene Einkehr nach innen beworben wird, ist es eben so schwierig wie notwendig, die Verantwortung auch für den anderen zu sehen und zu tragen.

Sie sind nach mehr als 30 Jahren als Professorin an der Ruhr-Universität Bochum offiziell in den Ruhestand getreten. Sie veröffentlichen aber weiterhin – was sind Ihre nächsten (Forschungs-)Vorhaben?

Drei Schwerpunkte treiben mich weiterhin um: 1. die Leiblichkeit unserer Existenz und die Not, ihr sprachlich gerecht werden zu können, 2. der Einfluss zeitgenössischer Techniken und Technologien auf unser Menschenbild. Dabei suche ich nicht nach einem Residuum des Humanen, sondern bin bemüht, Differenzen zwischen Menschen und ihren Techniken zu finden und vorbehaltlich zu formulieren. Der Vorbehalt meint, dass Unterschiede nur so lange zu retten sind, wie wir uns selbst nicht ausschließlich im Sinne unserer Maschinen verstehen. Die zeitgemäßen humanoiden Roboter folgen z. B. einer kybernetischen Logik der Selbstorganisation. Sie prägen das Muster selbstgesteuerter Leistungsträger neoliberaler Gesellschaften. Androiden – wie ungelenk sie auch immer erscheinen – provozieren dazu, sich der vorprädikativen Erfahrungen bewusst zu werden, die sich nicht in Regeln bändigen und in Algorithmen übertragen lassen.

Sowohl der erste als auch der zweite Interessenbereich sind vom dritten nicht zu trennen, nämlich dem Versuch, einen zeitgemäßen Bildungsbegriff zu formulieren, welcher der Gefahr Rechnung trägt, dass sich in den vielen digital induzierten Mobilitäts-, Änderungs- und Fortschrittsprozessen trotz aller Transformations- und Flexibilitätsappelle Signaturen der Vormoderne verbergen, die uns zur Gefahr werden können: Mit der Omnipotenz der Superintelligenzen etwa wiederholen sich Allmachtsstrukturen, denen wir nicht gewachsen sind, deren unsere Vernunft nicht habhaft werden kann. „Bildung ist ganz wesentlich Unverführbarkeit“, notiert Hans Blumenberg. Menschen verfügen nicht frei über ihre Möglichkeiten, sind ihnen aber auch nicht ausgeliefert. Nicht aufgedrehte Selbstbemeisterung und Optimierung, sondern ein Denken vom anderen her und höchst aktives Zaudern sind an der Zeit.