Neue Mitglieder 2022: Tobias Bleek (Klasse der Künste)
Der ungarische Komponist György Ligeti hätte im kommenden Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert. Deshalb wird seine Musik 2023 von vielen Klassik-Spielstätten gewürdigt. Wo man sie allerdings nicht erwartet, ist eine Grundschule in Duisburg-Marxloh. Doch genau hier, an der Grundschule Sandstraße, erklingt an diesem Morgen „Automne à Varsovie“ – eines von Ligetis komplexesten Klavierwerken. Rund 20 Kinder bewegen sich dazu im Raum.
„Mittlerweile erreichen wir jedes Jahr über 800 Kinder und Jugendliche.“
„Die Kinder beschäftigen sich jede Woche 90 Minuten mit dieser Musik und arbeiten an einer Choreografie. Am Ende des Schuljahres werden sie auf einer unserer Veranstaltungen auftreten“, erklärt Tobias Bleek. Der habilitierte Musikwissenschaftler und Kunstvermittler mit Forschungsschwerpunkten im Bereich der Musik des 19. bis 21. Jahrhunderts leitet das Education-Programm der Stiftung Klavier-Festival Ruhr. Bleek hat das Programm, das im März mit dem neuen Landespreis für Kulturelle Bildung ausgezeichnet wurde, aufgebaut. 15 Jahre ist das her. Damals war er Assistent am Institut für Musikwissenschaft der Humboldt-Universität und arbeitete parallel als Autor und Musikvermittler für die Berliner Philharmoniker. Doch dann erreichte ihn die Anfrage, ob er nicht die Leitung des neu begründeten Education-Programms des Klavier-Festivals Ruhr übernehmen wolle. Dem langjährigen Festivalintendanten Prof. Franz Xaver Ohnesorg war es ein Anliegen, ein nachhaltiges Bildungs- und Förderprogramm ins Leben zu rufen. Dafür hatte er bereits den renommierten englischen Musikvermittler Richard McNicol gewonnen. Dieser empfahl ihm seinen jungen Kollegen Tobias Bleek. Der gebürtige Tübinger hatte gerade seine Doktorarbeit beendet und ergriff die Chance.
Angefangen hat die Arbeit des Festivals in Marxloh mit vier Workshops. Heute ist das Education-Programm an allen Schulen im Stadtteil fester Bestandteil des Curriculums. „Mittlerweile erreichen wir jedes Jahr über 800 Kinder und Jugendliche“, berichtet Bleek. „Die Schülerinnen und Schüler beschäftigen sich in unterschiedlichen Kunstformen auf schöpferische Weise mit Musik von Bach bis Sofia Gubaidulina. Viele von ihnen machen das einmal pro Woche, häufig mehrere Jahre lang und auch über schulische Grenzen hinweg.“
„Wir wollten Kinder erreichen und langfristig fördern, die keinen selbstverständlichen Zugang zu kultureller Bildung haben.“
Für Marxloh entschieden sich Bleek und das Festival zu einem Zeitpunkt, als der Stadtteil noch nicht so stark als „sozialer Brennpunkt“ im Fokus der Öffentlichkeit stand. „Wir wollten Kinder erreichen und langfristig fördern, die keinen selbstverständlichen Zugang zu kultureller Bildung haben“, erklärt er und ergänzt: „Viele von ihnen sprechen zu Schulbeginn kaum Deutsch, haben keine Kindergartenerfahrung und wachsen unter schwierigen ökonomischen Bedingungen auf. Musik und Tanz als nichtsprachliche Kunstformen ermöglichen ihnen, sich auszudrücken, miteinander zu interagieren, gemeinsam ästhetische Erfahrungen zu machen und in diesen Prozessen unterschiedlichste Fähigkeiten zu entwickeln.“
Was Bleek an seiner Arbeit besonders schätzt, ist die Möglichkeit, verschiedene Felder miteinander zu verbinden. So beschäftigt ihn die Musik, die in den Marxloher Schulen erklingt und vermittelt wird, auch als Wissenschaftler und Hochschullehrer. Zu Ligetis Musik hat er Quellenstudien betrieben, Aufsätze geschrieben und sie in Seminaren mit Studierenden diskutiert. Zugleich ermöglichte ihm das Klavier-Festival Ruhr, gemeinsam mit dem französischen Pianisten Pierre-Laurent Aimard eine umfangreiche Website zu den Klavierwerken des ungarischen Komponisten zu entwickeln. Der Professor an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln hat 20 Jahre lang eng mit Ligeti zusammengearbeitet. Auf der forschungsbasierten Vermittlungsplattform „Explore the Score“ gibt er sein Insiderwissen preis.
„Wir haben die Tendenz, Kinder systematisch zu unterschätzen.“
Für Bleek, der selbst Cello spielt, ist das Internet ein ideales Medium, um komplexe Musik auf verständliche und anschauliche Weise zu vermitteln. „In multimedial aufbereiteten Partituren können die Benutzerinnen und Benutzer tiefer in die Musik eindringen und sie aus verschiedenen Perspektiven kennenlernen.“ So gibt es Einführungen, Interpretationshinweise, Meisterkurssequenzen, historische und theoretische Erläuterungen sowie eine kritische Online-Edition. Letztere richtet sich in erster Linie an ein Fachpublikum und enthält zahlreiche bis dahin unveröffentlichte Informationen.
Wer die Gelegenheit nutzt und tiefer in die Musik von Ligeti vordringt, stellt aber auch fest, wie komplex die Werke des Ungarn sind. Dass sie die Schülerinnen und Schüler in Marxloh überfordern könnten, glaubt Bleek trotzdem nicht: „Wir haben die Tendenz, Kinder systematisch zu unterschätzen. Es ist erstaunlich, wie konzentriert sie diese Musik hören.“ Der Blick in den Klassenraum gibt ihm recht. Die Schülerinnen und Schüler haben sich im Kreis auf den Boden gesetzt. Bei jeder Frage der Kursleiterin und Tänzerin Petra Jebavy schnellen viele Finger in die Höhe. Hier sind gerade auf jeden Fall „fast“ alle bei der Sache.