Vom regelmäßigen Konsum zur Abhängigkeit – Mechanismen der Entstehung der Abhängigkeit von Suchtmitteln
Prof. Dr. Norbert Scherbaum, Universitätsklinikum Essen
Substanzbezogene Störungen, insbesondere die Alkoholabhängigkeit, gehören zu den häufigsten chronischen Erkrankungen in Deutschland. Diese Erkrankungen sind verbunden mit erheblichem Leid für die Erkrankten und ihre Umgebung sowie psychischen und körperlichen Folgeerkrankungen. Zudem verursachen die gesundheitlichen und sozialen Folgen der Alkoholabhängigkeit (wie Arbeitsunfähigkeit und Verkehrsunfälle) erhebliche volkswirtschaftliche Kosten. Wegen der oftmals schon im Jugendalter bzw. jungen Erwachsenenalter einsetzenden sozialen Desintegration sind auch die Cannabis- und die Opioidabhängigkeit von erheblicher gesundheitspolitischer Bedeutung.
Ziel des Vortrags ist eine Darstellung der Entstehung des abhängigen Konsums, beginnend mit psychosozialen Risikofaktoren für die Aufnahme eines regelmäßigen Konsums (individuell: z.B. primär bestehende psychische Erkrankungen; gesellschaftlich: z.B. Preis und Verfügbarkeit von Suchtmitteln). Die regelmäßige Einnahme des Suchtmittels führt dann insbesondere durch die allen Suchtmitteln gemeinsame Manipulation des sogenannten dopaminergen Belohnungssystems zu neurobiologischen Veränderungen im Gehirn. Hieraus resultieren wiederum die Entwicklung von Suchtmittelkonsum als Handlungsroutine, eine verzerrte Aufmerksamkeit zu Gunsten von suchtmittelbezogenen Reizen sowie eine verminderte Hemmung von Impulsen zum Suchtmittelkonsum. Auf diese Weise löst sich der dann abhängige Suchtmittelkonsum von seinen ursprünglichen Bedingungen. Die Wahrscheinlichkeit für die skizzierte Entwicklung unterliegt zudem einem komplexen genetischen Einfluss.
Aus einem psychobiologischen Verständnis der Abhängigkeit leitet sich die Bedeutung der Verhältnisprävention ab. Deren Ziel ist es, die Lebensbedingungen so zu gestalten, dass in einer Gesellschaft die Häufigkeit der Aufnahme eines regelmäßigen Suchtmittelkonsums reduziert wird.
Unterstützt durch ein Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes studierte Professor Dr. med. Norbert Scherbaum Humanmedizin in Essen und London. Er ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Nach Promotion (1991) und Habilitation (2002) im Fach Psychiatrie und Psychotherapie wurde er 2004 auf die neugeschaffene Professur für Klinische Suchtforschung an der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen berufen und übernahm zugleich die chefärztliche Leitung der neu etablierten Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin an der LVR-Universitätsklinik Essen. Seit 2016 hat er auch die chefärztliche Leitung der dortigen Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie inne. Professor Scherbaum vertritt in Forschung und Lehre das Fach Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Fakultät in Essen (ebenfalls seit 2016).
Klinischer und wissenschaftlicher Schwerpunkt seiner Arbeit sind die Abhängigkeitserkrankungen. Durch seine wissenschaftliche Arbeit hat er wesentlich zur Etablierung der Substitutionsbehandlung Opioidabhängiger als Standardbehandlung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland beigetragen. Seine aktuelle Forschung im Bereich von Missbrauch und Abhängigkeit betreffen das Aufkommen neuer Konsummuster durch die Verbreitung neuer synthetischer Drogen und den zu- nehmenden Missbrauch von Medikamenten wie Pregabalin, den Einfluss der Zulassung von Cannabis als Medikament bzw. der aktuellen Teillegalisierung von Cannabis zum Freizeitkonsum auf das Konsumverhalten in verschiedenen Risikogruppen sowie die Evaluation von E-Mental-Health Interventionen zur Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen.
Prof. Scherbaum ist Mitglied im Sachverständigenausschuss für Betäubungsmittel des Bundesministeriums für Gesundheit (seit 2010) sowie des Ausschuss „Sucht und Drogen“ der Bundesärztekammer (seit 2011). Er ist seit 2021 Vorstandsvorsitzender der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS).