Neue Mitglieder 2022: Nicola Fuchs-Schündeln (Klasse für Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften)
Aus ihrem Fenster im Economics Department blickt Professorin Dr. Nicola Fuchs-Schündeln auf den Campus der Columbia University, in der Ferne erkennt sie die Skyline von Manhattan. Seit Februar ist die Professorin für Makroökonomie und Entwicklung in New York. Ein Jahr lang wird sie hier forschen. Deshalb sei ihr Büro auch eher karg eingerichtet, erklärt die 50-Jährige mit einem Lächeln in die Kamera ihres Computers, denn unser Gespräch findet über Skype statt. Den Vormittag verbringt sie meist mit Online-Gesprächen. Ihre Doktorandinnen und Doktoranden befinden sich auf der anderen Seite des Atlantiks an ihrer Heimathochschule, der Goethe-Universität Frankfurt, und auch viele Co-Autorinnen und Co-Autoren arbeiten in Europa. Nachmittags kann sie sich in Ruhe ihrer Forschung widmen.
„In allen Ländern sieht man, dass die Erwerbstätigenquote tendenziell ansteigt, also mehr und mehr Leute arbeiten, während die Arbeitsstunden pro Erwerbstätigem weniger werden.“
Mit ihren Erkenntnissen macht die Wirtschaftswissenschaftlerin deutlich, wie bestimmte politische Rahmenbedingungen die Lebenssituation und das Verhalten der Menschen beeinflussen. „Das ist mir sehr wichtig, denn die Volkswirtschaftslehre ist eben eine Sozialwissenschaft“, sagt Fuchs-Schündeln. Ihre Expertise ist bei der Politik gefragt. Von 2011 bis 2021 war sie im wissenschaftlichen Beirat des Finanzministeriums tätig, inzwischen berät sie das Wirtschaftsministerium. Das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Politik beschreibt die Ökonomin als durchaus herausfordernd: „Wir haben unsere ökonomischen Modelle und die Politikerinnen und Politiker haben ihre politischen Gegebenheiten. Diese mitzudenken und zu überlegen, was wirklich umsetzbar wäre, das ist eine große Herausforderung. Andererseits gehört es zur Beratungsaufgabe, aus wissenschaftlicher Sicht zu sagen, wie es im Idealfall sein könnte. Die politischen Kompromisse müssen die Politikerinnen und Politiker schließen.“
Im August hat die Wirtschaftswissenschaftlerin einen Vortrag auf dem Jackson Hole Economic Symposium derFederal Reserve Bank of Kansas City in Wyoming gehalten. In Fuchs-Schündelns Vortrag ging es darum, wie sich die Arbeitsmärkte der entwickelten Länder in den letzten beiden Jahrzehnten verändert haben. „In allen Ländern sieht man, dass die Erwerbstätigenquote tendenziell ansteigt, also mehr und mehr Leute arbeiten, während die Arbeitsstunden pro Erwerbstätigem weniger werden“, erklärt sie. „Wir haben uns natürlich gefragt, woran das liegen könnte. Dazu haben wir ein neues Modell entwickelt, in dem wir annehmen, dass die Fixkosten im Zusammenhang mit der Arbeit über die Zeit gesunken sind, zum Beispiel durch vermehrtes Home Office.“ Besonders Mütter oder ältere Menschen, die neben dem Job noch andere Aufgaben oder Belastungen bewältigen müssen, seien bei niedrigen Fixkosten zwar eher bereit, einer Arbeit nachzugehen, dann aber meist für wenige Stunden.
„Die Unterschiede in den Steuersystemen der Länder haben einen großen Effekt darauf, wie viele Stunden Frauen arbeiten.“
Fuchs-Schündeln hat auch nachgewiesen, dass es wegen des Ehegattensplittings gerade in Deutschland viele Frauen gibt, die zwar auf dem Arbeitsmarkt teilnehmen, dies jedoch im Durchschnitt mit einer sehr niedrigen Stundenzahl. Das sei ein Grund, warum sie weniger verdienen. „Bei den heutigen Scheidungsraten oder wenn man über Altersarmut nachdenkt, kommt da ein großes gesellschaftliches Problem auf uns zu“, konstatiert die Wissenschaftlerin. „Die Unterschiede in den Steuersystemen der Länder haben einen großen Effekt darauf, wie viele Stunden Frauen arbeiten.“ Es gebe Systeme der getrennten Besteuerung von Eheleuten, etwa in Großbritannien und Schweden, und Systeme der gemeinsamen Besteuerung, bei der der Steuersatz nicht nur vom eigenen Einkommen abhänge, sondern auch vom Einkommen der Partnerin oder des Partners. Das Musterbeispiel dafür sei das deutsche Ehegattensplitting. Hier sehe sich die Zweitverdienerin oder der Zweitverdiener einem hohen Steuersatz gegenüber, wenn sie oder er anfange zu arbeiten.
Auch in Bezug auf ihr eigenes Fachgebiet sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache: nur 15 Prozent der volkswissenschaftlichen Professuren sind mit Frauen besetzt. Hier mehr Chancen für den weiblichen Nachwuchs zu schaffen, liegt Fuchs-Schündeln am Herzen: „Da muss noch einiges geschehen. Frauen müssen zum Beispiel sichtbarer werden mit ihrer Leistung, damit sie auch als Vorbilder für andere Frauen wahrnehmbar sind.“
Bevor Fuchs-Schündeln, die in Essen aufgewachsen ist, zur Volkswirtschaftslehre gefunden hat, studierte sie Regionalwissenschaften Lateinamerika in Köln. 1995 war sie als Austauschstudentin in Argentinien: „Dort herrschte gerade die Tequila-Krise, also eine Wirtschaftskrise, die von Mexiko auf ganz Lateinamerika übergeschwappt ist.“ So habe sie aus erster Hand die Erfahrung machen können, wie wichtig die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für das Leben der Menschen seien: „Das hat mich die Liebe zur VWL entdecken lassen.“