Neue Mitglieder 2022: Andrea Stieldorf (Klasse für Geisteswissenschaften)
Bereits beim Betreten ihres Büros ist klar, womit sich Professorin Dr. Andrea Stieldorf in ihrer Forschung beschäftigt. Auf dem Holztisch liegen vier Wachssiegel – natürlich keine Originale. Eine der Nachbildungen zeigt einen Mann. Offensichtlich handelt es sich um einen König. Denn er trägt eine Krone und sitzt auf einem Thron. Viel mehr erkennt der Laie nicht. Die Historikerin hat hingegen auch dieses Siegel bis ins letzte Detail studiert. Sie kennt jede Wölbung im Wachs, weiß, wann, von wem und zu welchem Zweck es genutzt wurde und hat es mit anderen Siegeln verglichen.
„Danach haben mich die Siegel nie wieder losgelassen.“
Stieldorf hat neben der Mittelalterforschung die Historischen Grundwissenschaften und somit auch die Siegelkunde zu ihrem Fachgebiet gemacht. Welche Erkenntnisse die 54-Jährige aus der akribischen Beschäftigung mit den Siegeln gewinnen kann, hat sie bereits in ihrer Dissertation gezeigt. Damals forschte sie zu Rheinischen Frauensiegeln im 13. und 14. Jahrhundert. Diese wurden nicht nur von Adeligen, sondern auch von Bürgerinnen geführt. Durch die Untersuchung der Siegel konnte Stieldorf viele allgemeine historische Fragen zur sozialen Stellung weltlicher Frauen und ihren rechtlichen Möglichkeiten klären.
„Danach haben mich die Siegel nie wieder losgelassen“, erzählt die Historikerin, die sich auch mit der Bildsprache von Urkunden, Münzen und Wappen beschäftigt. Stieldorf ist eine der wenigen Expertinnen auf diesem Gebiet. Dabei war sie ursprünglich an die Uni gegangen, um Neuere Geschichte zu studieren. Anschließend wollte sie Archivarin werden. Auch dieser Berufswunsch war angesichts ihrer Herkunft schon ungewöhnlich. Stieldorf ist das, was man einen „First-Generation Academic“ nennt. Ihr Vater war Straßenbahnfahrer, die Mutter Hausfrau. „In der Familie meiner Mutter war ich die erste, die ein Gymnasium besucht hat“, erzählt die Mediävistin, die in Bonn aufgewachsen ist. Auch wenn früh klar war, dass sie studieren wollte, hätte sie nie an eine wissenschaftliche Karriere gedacht. „Archivarin war ein Beruf, den ich kannte“, sagt sie. Als Schülerin habe sie ein Praktikum im Historischen Archiv des Erzbistums Köln gemacht.
Dass sie letztlich den Weg in die Forschung fand, hängt laut Stieldorf mit dem Lehrstuhl zusammen, den sie heute inne hat. An diesem Lehrstuhl besuchte sie im zweiten Semester eine Mittelalter-Vorlesung ihres Vorvorgängers. „Da habe ich festgestellt, dass ich das Mittelalter spannend finde“, erzählt sie. Später arbeitete sie am gleichen Lehrstuhl als Hilfskraft, konnte sich so die erste eigene Wohnung finanzieren und kam mit der Forschung auf Tuchfühlung.
„Für das Mittelalter gibt es viel weniger Quellen als für die Neuzeit. Deshalb müssen wir uns bis ins letzte Detail mit einer Quelle auseinandersetzen.“
Sie entschied sich zur Dissertation, wobei die Idee, Rheinische Frauensiegel zu untersuchen, von ihrem ersten akademischen Lehrer stammte, der von ihrem Schülerpraktikum im Historischen Archiv des Erzbistums Köln wusste. Toni Diederich leitete dieses bis 2004 und ist ein anerkannter Siegelexperte. „Er fand das Thema spannend“, erzählt die Mediävistin. Nach der Promotion folgte die Habilitation, ebenfalls an der Universität Bonn, wobei Stieldorf die meiste Zeit von Leipzig aus forschte. Ihr Mann, auch Historiker, arbeitete an der ostdeutschen Universität. Die beiden hatten eine kleine Tochter. Um Kinderbetreuung und Wissenschaft unter einen Hut zu bekommen, bewarb sich Stieldorf auf ein Lise-Meitner-Stipendium des Landes Nordrhein-Westfalen. Sie war erfolgreich und konnte sich drei Jahre von ihrer Assistentenstelle beurlauben lassen. „So konnte ich mich neben der Betreuung meiner Tochter um meine Forschung kümmern“, sagt die 54-Jährige.
Das Paar kehrte nach Bonn zurück und Stieldorf blieb der Rheinischen Universität bis auf eine fünfjährige Professur in Bamberg treu. Was sie damals von Bamberg zurück nach Bonn holte, war neben der Aussicht auf einen eigenen Lehrstuhl vor allem der Sonderforschungsbereich „Macht und Herrschaft“ an der Rheinischen Universität, an dem sie mitwirken sollte. „Das war ein tolles Projekt. Wir haben mit vielen, auch kleinen Fächern, interdisziplinär zusammengearbeitet“, schwärmt die Mediävistin. Doch auch abseits des Sonderforschungsbereichs fand sie in Bonn nahezu ideale Forschungsbedingungen. Die Nähe zum Historischen Archiv des Erzbistums Köln spielt auch hier wieder eine Rolle. Aber auch die Tatsache, dass sie an ihrem Lehrstuhl ihre beiden Fachgebiete, die Mittelalterforschung und die Historischen Grundwissenschaften, verbinden kann.
Während sie mit den Fingern die Konturen des Königssiegels nachzeichnet, erzählt sie, warum sie ihr Forschungsfeld bis heute fasziniert: „Für das Mittelalter gibt es viel weniger Quellen als für die Neuzeit. Deshalb müssen wir uns bis ins letzte Detail mit einer Quelle auseinandersetzen.“ Und genau das macht Stieldorf bis heute unglaublich gerne.