Blütenstaub aus der Steinzeit
Wie oft kommt es vor, dass eine Wissenschaftlerin oder ein Wissenschaftler während eines Forschungsprojektes die Armee um Hilfe bitten muss? Die Wahrscheinlichkeit dürfte gegen Null tendieren. Prof. Dr. Thomas Litt hat genau das 2010 in der Osttürkei erlebt. Der Paläobotaniker, dessen Spezialgebiet die Klimarekonstruktion ist, leitete damals ein internationales Bohrprogramm auf dem Vansee. Während eines Sturms riss sich ein als Ankerwinde genutzter Transportcontainer von der Bohrplattform los und verschwand in dem 123 Kilometer langen und bis zu 52 Kilometer breiten Gewässer. „Das war sehr gefährlich“, erklärt Litt. Auf dem Vansee fährt eine Eisenbahnfähre. Das Forschungsteam wollte eine Kollision der Fähre mit dem Container verhindern. Da sie sich nicht anders zu helfen wussten, verständigten sie die türkische Armee. „Die haben einen Kampfhubschrauber geschickt“, erinnert sich der 66-Jährige. Aus der Luft war der Container schnell gefunden.
Der Armeeeinsatz war auch für Litt einmalig. Dass seine Forschungsvorhaben viel diplomatisches Geschick erfordern, ist hingegen die Regel. An dem Bohrprogramm in der Türkei waren rund 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlichster Nationen und Fachrichtungen beteiligt. Hinzu kamen die über das Internationale Kontinentale Bohrprogramm (ICDP) beauftragten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bohrfirma. „Wir haben für unsere Crew ein komplettes Hotel gemietet“, erzählt der Paläontologe.
Pollenstruktur verrät, um welche Pflanze es sich handelt
Der Aufwand war riesig. Dabei ist das, wofür sich Litt bei den Bohrungen interessiert, winzig klein, genau genommen wenige Mikrometer klein. Es ist der Blütenstaub, der sich vor mehreren hunderttausend Jahren auf der Wasseroberfläche angesammelt hat, hinabgesunken ist und in den Sedimenten des Sees eingeschlossen wurde. Damit der Geowissenschaftler die Pflanzenpartikel genauer betrachten kann, müssen sie zunächst von organischen und mineralischen Bestandteilen befreit werden. Die Pollenproben werden mit Kalilauge, Salz- und Flusssäure aufbereitet. „Die halten das aus“, betont der Paläobotaniker, wobei diese Aussage nicht ganz stimmt, wie er selbst erläutert. Tatsächlich wird der Zellkern zerstört, doch für den interessiert sich Litt nicht. Ihm geht es um die Außenhülle, die nicht nur besonders resistent, sondern durch ihre Struktur auch sehr markant ist.
„Durch die Pollenstruktur können wir die Pflanzen relativ präzise bestimmen“, erläutert der Wissenschaftler. Die Frage, ob vor 600.000 Jahren am Vansee Kiefern oder Eichen wuchsen, kann er problemlos beantworten. Darüber hinaus verrät ihm die in den Bohrkernen entdeckte Pollendichte, ob die Vegetation üppig oder kahl war. Schließlich kombiniert Litt seine Erkenntnisse mit der Klimatologie. So kann er Aussagen über Temperatur, Niederschlag und andere klimatische Faktoren treffen.
Um Forschungsergebnisse überprüfbar zu machen und das aufwändig in vielen hundert Metern Tiefe entnommene Material für mögliche zukünftige Untersuchungsmethoden zu sichern, wird jeder Kern vor der Probenentnahme längs in zwei Hälften aufgeschnitten. „Die Archivhälfte wird eingelagert“, erklärt Litt. Bei kleineren Projekten macht er das selbst, in einem Kühlraum im Keller seines Instituts. Für große internationale Bohrprogramme ist das keine Lösung. Die Kerne aus dem Vansee wurden in eine Kühlhalle des Zentrums für Marine Umweltwissenschaften (MARUM) der Universität Bremen gebracht. Auf der ganzen Welt gibt es nur drei Kühllager dieser Art, in Japan, den USA und Bremen.
Klimarekonstruktionen helfen Zukunftsszenarien genauer vorherzusagen
Der Geowissenschaftler spricht von einem Schatz, der sicher gehütet werden muss. Welche entscheidenden Fragen die Wissenschaft mit Hilfe der Pollenproben beantworten kann, zeigt ein Bohrprogramm im Toten Meer, an dem Litt als stellvertretender Sprecher des Sonderforschungsbereichs „Unser Weg nach Europa“ beteiligt war. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fanden heraus, dass es in der letzten Warmzeit vor 120.000 Jahren im Bereich des heutigen nördlichen Israels, aber auch in Syrien und Libanon einen Urwald gab. Lange hatte man gerätselt, warum die Ausbreitung des modernen Menschen von Afrika nach Europa im Nahen Osten ins Stocken kam. Jetzt kannte man die Antwort. „Durch die letzte Eiszeit hat sich der Urwald gelichtet und es gab einen neuen Korridor Richtung Europa“, erklärt der Paläontologe.
Das Beispiel zeigt, wie wertvoll die Erkenntnisse aus den Bohrkernuntersuchungen sind, nicht nur für die Rekonstruktion vergangener Klimaereignisse, sondern auch in der aktuellen Klimakrise. „Bestimmte durch den menschengemachten Klimawandel befürchtete Szenarien, wie die Abschwächung des Golfstroms, hat es aus anderen Gründen auch schon in der Vergangenheit gegeben“, erklärt Litt. Dieses Wissen kann dabei helfen, drohenden Klimaereignissen besser entgegenzuwirken oder sich zumindest auf die Folgen vorzubereiten. „Für die Zukunft ist das meiste Spekulation, aber die Vergangenheit ist da“, sagt der Paläobotaniker.
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Urbanismus und Umweltveränderungen im Zentrum des Mongolischen Reiches
Als nächstes geht es für Prof. Dr. Thomas Litt in die Mongolei. Gemeinsam mit dem Archäologen Prof. Dr. Jan Bemmann, dem Leiter des Akademieprojektes „Limes und Legion“, will er mit Förderung der Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) der Frage nachgehen, welche Rolle mögliche Klimaveränderungen bei der Gründung und dem Zerfall des Mongolischen Reiches gespielt haben. Die beiden Wissenschaftler der Universität Bonn halten dazu am Mittwoch, 21. Februar, um 14.30 Uhr in der Wissenschaftlichen Sitzung der Klasse für Geisteswissenschaften einen disziplinenübergreifenden Vortrag.