Wie ein Werk entsteht – das Projekt ‚Arthur Schnitzler digital‘ und die Einsichten einer genetisch-kritischen Edition
Prof. Dr. Wolfgang Lukas, Prof. Dr. Michael Scheffel, beide Universität Wuppertal
Seit Karl Goedeke im Rahmen der ersten historisch-kritischen Schillerausgabe den Grund- stein für die genetische Editorik gelegt hat, ist uns die Frage, „wie ein Werk entsteht“, ganz selbstverständlich. Der verheißene Einblick in die „geheimste Gedankenwerkstätte“ des Autors (Goedeke 1876) fungiert als Movens und Legitimation für das Studium der in hand- schriftlichen Nachlässen überlieferten Skizzen, Entwürfe, Notate etc. Auch das Akademie- projekt Arthur Schnitzler digital. Digitale historisch-kritische Edition (Werke 1905 bis 1931) situiert sich in dieser wissenschaftsgeschichtlichen Filiation, wobei Arthur Schnitzlers sorg- fältige Zusammenstellung eines Archivs seiner Vorarbeiten (seit 1938 größtenteils aufbe- wahrt in der Cambridge University Library) ein solches Projekt überhaupt erst ermöglicht.
Der digitale Medienwandel hat am skizzierten genetisch-kritischen Paradigma nichts geändert, gleichwohl haben sich sowohl die Konzepte von ‚Textgenese‘ als auch die Methoden und Verfahren ihrer Darstellung im Laufe des 20. Jahrhunderts radikal ge- wandelt. Arthur Schnitzler digital trägt dem Rechnung und setzt sich zum Ziel, mithilfe innovativer digitaler Modellierungen und Visualisierungen, u. a. multiperspektivischer (makro- und mikrogenetischer) Ansichten, den Benutzer in Stand zu setzen, die der dokumentierten Werkgenese jeweils zugrundeliegende ästhetische Produktionslogik
auf eigene Weise zu studieren bzw. nachzuvollziehen. Wie das im Einzelnen geschieht, welches theoretische Konzept dem zugrunde liegt und was für Perspektiven eine ent- sprechende Edition zu eröffnen vermag, stellt der Vortrag an ausgewählten Beispielen vor. In seinem Blickpunkt wird Schnitzlers ‚Monologerzählung‘ Fräulein Else (1924) stehen, d. h. eine der bedeutendsten Novellen der Klassischen Moderne, die für kurze Zeit den Zugang zum Bewusstsein eines neunzehnjährigen, in ein lebensbedrohliches Dilemma geratenden jüdischen Mädchens öffnet.
Prof. Dr. Wolfgang Lukas: Prof. i.R., zuvor Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturgeschichte und Editionswissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal. Studium der Germanistik und Romanistik (Französisch und Italienisch) an der Ludwigs-Maximilian-Universität München. Promotion (1994) in München, Habilitation (2000) in Passau, Umhabilitation in Zürich (2005); 2000 –2006 wiss. Mitarb. im SNF-Projekt „C.F. Meyers Briefwechsel. Hist.-krit. Ausgabe“. Forschungsschwerpunkte: Editionswissenschaft, Literatursemiotik und Literarische Anthropologie. Veröffentlichungen u. a.: Das Selbst und das Fremde. Epochale Lebenskrisen und ihre Lösung im Werk Arthur Schnitzlers, 1996; Anthropologie und Theodizee. Studien zum Moraldiskurs im deutschsprachigen Drama der Aufklärung (ca. 1730 –1770), 2005; (Mhg.) Text – Material – Medium. Zur Relevanz editorischer Dokumentation für die literaturwissenschaftliche Interpretation, 2014; (Mhg.) Conrad Ferdinand Meyers Briefwechsel. Hist.-krit. Ausgabe, 1998ff. (https://cfmeyer-briefwechsel. org/home); (Mhg.) ‚Industriegeschichte privat‘. Online-Edition der Korrespondenz der Familie Engels (1791–1859), 2020 (https://familie-engels-briefe.de).
Prof. Dr. Michael Scheffel, Prof. i. R.; zuvor Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur- geschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Bergischen Universität Wupper- tal. Studium der Germanistik, Romanistik und Kunstgeschichte in Tübingen, Tours und Göttingen. Promotion (1988) und Habilitation (1995) in Göttingen; Tätigkeit als Gast- dozent bzw. Gastprofessor u. a. an den Universitäten von Birmingham, Coimbra, Dublin, Frankfurt/M., Lissabon, Pècs, Peking und Szeged. Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Geschichte des Erzählens, Fiktionalitätstheorie, Literatur des Realismus und der Jahr- hundertwende. Veröffentlichungen u. a.: Magischer Realismus, 1990; Formen selbst- reflexiven Erzählens, 1997; zus. mit Matías Martínez: Einführung in die Erzähltheorie, 1999ff.; (Mhg.) Klassiker der modernen Literaturtheorie, 2010; (Mhg.) Schnitzler-Hand- buch, 2014 u. 2022; Arthur Schnitzler: Erzählungen und Romane, 2015; (Hg.) Kurzprosa um 1900, 2023; (Mhg.) Günter Grass Handbuch, 2025.
Prof. Dr. Wolfgang Lukas und Prof. Dr. Michael Scheffel leiten das seit 2012 im Akademien- programm geförderte Langzeitprojekt „Arthur Schnitzler: Digitale historisch-kritische Edition. (Werke 1905 –1931)“.