Sprache als belebtes Objekt: Zur animistischen Ontologie der klassischen Maya-Schrift
Prof. Dr. Nikolai Grube, Universität Bonn
Die klassische Maya-Schrift verkörpert ein radikal anderes Verständnis von Sprache, Schrift und Medialität – eines, das im Rahmen des „ontologischen Turns“ in der Anthropologie zunehmend theoriefähig geworden ist. In animistischen oder relationalen Ontologien – wie sie etwa Philippe Descola oder Eduardo Viveiros de Castro beschreiben – sind Dinge, Zeichen und Wesen nicht ontologisch getrennt, sondern durchdringen sich als aktive, be- lebte Akteure. Die Maya-Schrift lässt sich als Ausdruck genau dieser ontologischen Logik lesen: Sie ist nicht bloß ein System von Schriftzeichen, das Sprache wiedergibt, sondern ein Medium, das Wirklichkeit hervorbringt und durch Belebung transformiert.
In diesem Kontext sind die Personifikationen von Wortzeichen und Silbenzeichen nicht dekorativ, sondern ontologisch bedeutsam. Kopf- und Körperdarstellungen – ob essenziell (ikonisch verwiesen) oder generisch (typisiert) – machen Schriftzeichen zu Akteuren mit Agency. Selbst Silbenzeichen, die nur Lautwerte tragen, wurden mit Gesichtern versehen – ein starker Hinweis darauf, dass auch die Sprache selbst als lebendig, wirkend und ver- letzlich gedacht wurde. Der Akt des Schreibens bedeutete nicht nur Darstellung, sondern Aktualisierung von Präsenz, eine Sichtweise, die sich etwa in Widmungstexten manifestiert: Nur durch animierte Inschriften wurde ein Objekt zu einem sakralen Subjekt. Umgekehrt bedeutete die Zerstörung von Texten – wie sie in zahlreichen archäologischen Stätten belegt ist – nicht nur Informationsverlust, sondern die Tötung eines belebten Wesens.
Die neuen Forschungen zur Schreibpraxis der Maya macht es möglich, eine indigene Medientheorie zu rekonstruieren, die Schrift nicht als neutrales Kommunikationsmittel versteht, sondern als wirkende Instanz mit eigenem Lebenszyklus. Sie macht sichtbar, wie tief Sprache, Bild und Objekt in der Ontologie der Maya miteinander verwoben sind – als Medien, durch die Welt entsteht, wirkt und vergeht.
Prof. Dr. Nikolai Grube (geb. 1962 in Bonn) ist Professor für Altamerikanistik und Ethno- logie an der Universität Bonn. Er studierte Altamerikanistik, Ethnologie, Altorientalistik und Indologie an der Universität Hamburg und wurde 1990 mit einer Arbeit zur Entwicklung der Maya-Schrift promoviert. Im Jahr 1999 habilitierte er sich an der Universität Bonn. Nach Stationen in Hamburg, Freiburg, Leiden und Bonn folgte er 1999 einem Ruf an die University of Texas at Austin, wo er den neu eingerichteten Linda and David Schele Chair für mesoamerikanische Kunst und Schrift übernahm. Seit 2004 ist er Professor für Altamerikanistik an der Universität Bonn.
Ein Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf der Erforschung indigener Schriftsysteme Meso- amerikas, insbesondere der Maya-Kultur, sowie der Dynastiegeschichte und politischen Struktur des Maya-Tieflands. Er ist an zahlreichen interdisziplinären Forschungsprojekten beteiligt und führt epigraphische und archäologische Feldarbeiten in Mexiko, Guatemala, Belize und Honduras durch. Von 2009 bis 2016 leitet er das von der Deutschen Forschungs- gemeinschaft (DFG) geförderte Ausgrabungsprojekt in der klassischen Maya-Stadt Uxul (Campeche, Mexiko), das zum Ziel hatte, die Auswirkungen von Eroberungen auf ökonomische Prozesse von Maya-Staaten zu erforschen.
Er koordiniert seit 2013 das von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste geförderte Langfristvorhaben „Textdatenbank und Wörterbuch des Klassischen Maya“, das eine systematische Erfassung und umfassende linguistische Aufarbeitung sämtlicher Hieroglypheninschriften der Maya-Kultur zum Ziel hat.
Prof. Dr. Nikolai Grube ist seit 2009 ordentliches Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.