Der Kelch Salomons in der Hagia Sophia. Neue Forschungen.
Prof. Dr. Rainer Stichel, Universität Münster
Die kirchenslavische Vita des hl. Kyrillos († 869 in Rom) berichtet, er habe nach seiner Rückkehr von einer Missionsreise zu den Chasaren am Unterlauf der Wolga in Konstantin- opel als einziger die hebräische und samaritanische Inschrift auf dem Kelch Salomons, den man in der Hagia Sophia aufbewahrte, entziffert und übersetzt. Wie die Vita des weiteren mitteilt, hatte Kyrillos zuvor in Chersonesos auf der Krim drei Sprachen, hebräisch, «samaritanisch» und «rossisch», erlernt. In der heutigen Forschung werden diese Angaben der Vita durchweg für historisch angesehen. Mit dem Fund des griechischen Textes der Kelchinschrift in zwei byzantinischen Handschriften (1967 und 1975) wurde klar, dass die kirchenslavische Fassung der Inschrift in der Vita des Kyrillos eine Übersetzung aus dem Griechischen darstellt. Anhand der beiden griechischen Fassungen kann die Forschung in zwei Richtungen weitergeführt werden. Zum einen ist es nun auf der Grundlage der griechischen Texte möglich, die Angaben der Vita des hl. Kyrillos über seine Sprachkennt- nisse zu verstehen und den historischen Wert der Vita zu überprüfen. Zudem bietet sich jetzt die Möglichkeit, die Überlieferung von dem Kelch Salomons und von seiner Inschrift zurückzuverfolgen, zunächst in das byzantinische Jerusalem, sodann in die Welt der Magie des hellenistischen Judentums und in die Vorstellungswelt des frühen Christentums.
Prof. Dr. Rainer Stichel, geboren 1942 in Berlin, war nach dem Besuch des Canisius- Kollegs der Jesuiten in West-Berlin und dem Studium der Byzantinistik, Slavistik und der Klassischen Philologie an der Freien Universität Berlin, in Heidelberg und Paris seit 1971 Mitarbeiter des christlichen Archäologen Friedrich Wilhelm Deichmann am Deutschen Archäologischen Institut in Rom, danach Referent an der Bibliotheca Hertziana, dem kunst- historischen Institut der Max-Planck-Gesellschaft in Rom. Nach neunjähriger Tätigkeit in Rom habilitierte er sich 1981 an der Universität zu Köln für das Fach Byzantinistik. Seit 1984 Heisenberg-Stipendiat, folgte er 1985 einem Ruf auf den Lehrstuhl für Byzantinistik an der Universität Münster, den er bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand im Jahre 2007 innehatte. Für das Akademische Jahr 1987 / 88 lud die Harvard-Universität ihn als Senior Research Associate an ihr byzantinistisches Studienzentrum Dumbarton Oaks in Washington ein. 1994 und 1997 lehrte er als Directeur d’études invité an der École Pratique des Hautes Études (Sorbonne) in Paris.
Hauptarbeitsgebiete sind Forschungen zu den Wechselbeziehungen zwischen byzan- tinischer Literatur und Kunst, zum Nachleben der jüdischen Literatur der hellenistischen Zeit in der byzantinischen Welt und zur Bedeutung der byzantinischen Kultur für die ortho- doxen Slaven.
Prof. Dr. Rainer Stichel ist seit 1995 ordentliches Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.